Das schöpferische Prinzip



Das schöpferische Prinzip
Versuch über Gender Identität, Spiritualität
und Sexualität 1. Teil


„Wer die Begrifflichkeit der chinesischen Vorstellung des Yin und Yang auf das Weltbild der Navajo-Kultur im Südwesten der USA legt, kommt nicht umhin, in gewisser Weise Ähnliches zu entdecken.

Das Navajo-Weltbild, sagt Carolyn Epple vom Navajo Community College in „A Navajo Worldview and Nadleehi“, wird oft diskutiert in der Terminologie des „sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“, also im Sinne eines zyklischen Prozesses, bei dem Jedes und Alles existiert und wird.

Die folgenden vier Punkte sind die Hauptbegründung für diese Argumentation:
1. Jede Person, jeder Gedanke und jede Handlung, ja das Universum selber ist ein „sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“-Zyklus.
2. Alles ist also von einem höheren Standpunkt aus gesehen ein „sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“-Zyklus.
3.„sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“ ist also ein lebendes System, in welchem Jeder mit Jedem und Alles mit Allem verbunden ist.
4. „sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“ verwandelt zyklisch Alles in Alles.

In meinen Augen sind die Ähnlichkeiten zum taoistischen Denken Ostasiens offensichtlich. „Sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“ ist wie Ying und Yang die sich in ewiger Wandlung befindende durchdringende Polarität unserer Existenz.

Trotzdem gibt es einen entscheidenden Unterschied. Ich weiß nicht, inwieweit die ostasiastische Kultur mal eine matrilineare Ausrichtung hatte, wahrscheinlich ist es schon, da es heute noch in China Minderheitskulturen mit matrilinearen Ausrichtung gibt. Sicher ist auf jeden Fall, dass die Navajos eine matrilineare Kultur haben.

Das dies in Ostasien seit mehreren Jahrtausenden nicht mehr der Fall ist, mag die Ursache dafür sein, dass das Yin als das Dunkle, Kalte und Nasse, als das Weibliche in Ostasien interpretiert wird, während das Yang als das dynamische Lichte beschrieben wird. Ganz anders als im „sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“ der Navajo. Da ist es eher umgekehrt. Da auch das Männliche bei den Navajo positiver gewertet wird als das Weibliche Yin in Ostasien. Anscheinend hat eine patriarchalische Kultur es nötiger, das Weibliche herabzusetzen.

Wie auch immer, die Kultur der Navajo und die des alten China haben eines gemeinsam mit dem alten Europa, nämlich die Auffassung des Heraklit, der ja sagte: Alles fließt.

Wenn man sich aber mit Heraklit näher befasst, merkt man, dass seine Philosophie nicht von einer statischen Realität ausging, wie seine Zeitgenossen, sondern von einer sich stetig wandelnden Realität, zu der man in Europa wohl nicht den rechten Zugang fand. Wenig ist erhalten von seinen Schriften und trotzdem ist in dem, was uns von ihm geblieben ist, viel von dem zu finden, was auch von den Taoisten oder den Navajo-Schamanen stammen könnte :

„Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches wie Schlafendes, Junges wie Altes. Das eine schlägt um in das andere, das andere wiederum schlägt in das eine um.“ Fragment B 88

Sein Logos-Begriff ähnelt dem chinesischen Tao oder Dao. Hier noch ein Zitat:

„Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen. Alles geschieht nach diesem Logos, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich’s damit verhält.“ Fragment B1

Stellt man daneben Lao-tse, so könnte man von Brüdern im Geiste reden:

„Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt. Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt. Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und Kurz gestalten einander. Hoch und Tief verkehren einander. Stimme und Ton sich vermählen einander. Vorher und Nachher folgen einander.“
Lao-tse „Tao te king“ Vers 2

Die Verwandtschaft von Heraklit und dem chinesischen Denken wird noch deutlicher wenn man Heraklit Fragment B 31 betrachtet:

„Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, hat kein Gott und kein Mensch geschaffen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen erlöschend.“

Für Heraklit ist diese Welt Gott. Was heißt das? Sehen wir bei Francois Jullien nach, der ja sagt, um aus der Sackgasse des europäischen Denkens zu kommen, müsse man „den Umweg über China“ beschreiten.

Ich zitiere aus Francois Julliens Buch „Schattenseiten“:

„In der westlichen Welt ist Heraklit der erste, der diesen die Metaphysik von vornherein durchkreuzenden Weg beschreitet. Dadurch, dass er die Gegenteile ohne vermittelnde Instanz füreinander öffnet und sie ohne Abstimmung miteinander verknüpft, ergreift er offen für diesen Einbruch Partei und lässt die grundlegende Einheit erscheinen, die vom allgemeinen Diskurs nur verschleiert (und mit der Errichtung der Metaphysik verewigt) wird:

„Gott ist Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger“. Fragment 67

„Tag Nacht“ und nicht „Tag und Nacht“. Denn nicht dadurch, dass man auf der einen Seite den Tag, auf der anderen die Nacht sieht,
auf der einen Seite den Winter, auf der anderen den Sommer, wird man jene Einheit der gegenseitigen Abhängigkeit erfassen, für den Heraklit den Namen „Gott“ gewählt hat. Tag – Nacht: Man darf die Begriffe nicht einzeln einen nach dem anderen aufsagen, wie es „die Vielen“ tun, die nicht „wach“ sind und diese Untrennbarkeit nicht einsehen, den Frieden getrennt vom Krieg oder die Sattheit getrennt vom Hunger begreifen, sondern muss sie zusammenhalten. Tag – Nacht, Winter – Sommer, Krieg – Frieden, Sattheit – Hunger: Da ist kein „Sinn“ in der eigentlichen (selektiven) Bedeutung des Wortes, sondern die Kohärenz der Gegensätze wird direkt im Diskurs aufrechterhalten.“

Soweit Francois Jullien. Und das ist es, was die Navajo meinen, wenn sie den heiligsten Satz ihres Glaubens aussprechen: „sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“.

Gary Witherspoon definiert in „Language and Art in the Navajo Universe“ den Begriff „sa’ ah naaghài bik’eh hòzhò“ so: „Die Etymologie von ‚sa’ ah’ lässt erkennen, dass dieser Ausdruck eine Ableitung der Vergangenheitsform von ‚wachsen’‚reifen’ ist. Dieser verbale Stamm bezeichnet etwas oder jemanden, der geistige Reife oder ein hohes Alter erreicht.“

„Naagh’ai“ ist laut Witherspoon eine von über dreihunderttausend Möglichkeiten in der Navajo-Sprache, das Verb ‚gehen’ zu konjugieren. So gesehen bedeutet also beides zusammen „sa’ ah naaghài“ die immer wiederkehrende Erneuerung des Lebens.
Also Leben, Sterben, oder Sterben, Leben. Im Sinne Heraklits.

Das Wort „bik’eh“ ist am einfachsten zu übersetzen. Es bedeutet „übereinstimmend mit diesem“ oder „aus diesem entsteht jenes“. Eben das „hòzhò“. Was nach Witherspoon nie angemessen übersetzt wurde. Weil es in den europäischen Sprachen nicht möglich ist, dieses Wort in all seinen Bedeutungen zu wiederzugeben.

Denn „hòzhò“ beinhaltet die ganze Welt der Erscheinungen, alles was ist und dessen Konditionen. Die Schönheit dieser Welt, die Harmonie des Kosmos. Was war und was sein wird. Die Dämmerung des Morgens, das Licht des Mittags, die Dunkelheit der Nacht. Das Spiel des Windes, das Licht der Sonne und der Wurf des Schattens.

Man könnte es auch mit den Worten des Buddhisten Laie Toba ausdrücken. Der, wie es in Dogens „Shobogenzo“ heißt, eines Nachts die Stimme eines Flusses im Tal hörte und folgende Zeilen verfasste:

„Die Stimme des Tales ist (Buddhas) reine Zunge,
die Form des Berges nichts anderes als sein reiner Körper.
Vierundachtzigtausend Verse klingen in der Nacht.
Wie kann ich dies an einem anderen Tag den Menschen sagen.“


Wobei zu sagen ist, das mit Buddha nicht der Mensch gemeint ist
der Buddha genannt wurde, sondern wie es im „Fueko“ (man könnte es das Zen-Buddhistische Glaubensbekenntnis nennen) heißt:

„Die zehn Richtungen dieser Welt, alles ist Buddha. Alle Bodhisattvas und Mahasattvas, große Weisheit Vollendung“

Also das was die Navajo unter „hòzhò“ verstehen. Nun werden mir da hunderte von Buddhisten wahrscheinlich sofort widersprechen.
Zu ihrer Beruhigung, ich behaupte hier nicht dass ich „hòzhò“ mit Erleuchtung im Sinne Buddhas oder irgendeiner buddhistischen Schule gleichsetze. Ich sage nur das was der Laie Toba im alten China erfahren als er die Stimme des Tales und der Berge vernahm, das war was ein Navajo unter „hòzhò“ versteht.

Letztlich, ist „sa ah naaghài bik eh hòzhò“ .Der Ausdruck unseres Geistes, die Fähigkeit des Bewusstseins unsere Welt wahrzunehmen, zuerkennen, zu beschreiben. Aber auch zu formen und damit zu gestalten. Und damit gibt „sa ah naaghài
bik eh hòzhò“ dem Menschen auch die Verantwortung für diese Welt. Und dies ist die Botschaft der Navajo an uns.

Wird Fortgesetzt

Literatur:
1. Carolyn Epple, „A Navajo Worldview and Naadlèèhi:
Implications for Western Categories,
in Two-Spirit-People, Native American Gender Identity, Sexuality, and Spirituality, University of Illinois Press 1997

2. Die Zitate Heraklit aus Wikipedia
http://de.wikipedia.org/wiki/Heraklit

3. Francois Jullien, „Schattenseiten“ Vom Bösen und Negativen,
diaphanes, Zürich-Berlin 2005

4. Gary Witherspoon, „Language and Art in the Navajo Universe“
The University of Michigan Press 1977

5. Meister Dogen, „Shobogenzo“ Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, Werner Kristkeitz Verlag 2003